Schieb den Gedanken nicht weg – Bürgermeisterinnengespräch bei faX

Wie kann in Kassel Prävention, Intervention und Hilfe für heute erwachsene Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend gelingen?

Im Sinne der Bundeskampagne der unabhängigen Beauftragten (UBSKM) Kerstin Claus „Schieb den Gedanken nicht weg“ haben wir die Dezernentinnen der Stadt Nicole Maisch (Jugend) und Ilona Friedrich (Soziales) zu uns zum Gespräch über sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Kassel geladen.

Ins Gespräch kommen bedeutet, sexualisierte Gewalt an sich herankommen lassen, das Tabu nicht bestehen lassen und über Möglichkeiten, Versäumnisse und Notwendigkeiten reden – daraus können sich Veränderung und Schutz in der Zukunft für Kinder und Jugendliche entwickeln. Wir hatten eingeladen zum Pressetermin in unsere Räumlichkeiten, gemeinsam mit geladenen Betroffenen, Rebecca Selbsthilfegruppe OHANA und Herr Keim, Nutzer von faX und unseren Kolleg*innen von der Beratungsstelle eigenMächtig e.V. Isabelle Seuter, Frau Noss und dem ITES-Wissenschaft-Netzwerk Herr Josuttis und Frau Marks.

In ihrer Einführung machte Frau Selzer von faX deutlich, dass Kinderschutz und Schutz vor sexualisierter Gewalt nach wie vor von der Postleitzahl abhängig sind, in der Kinder leben. Politik und Verwaltung gestalten in den Städten die Arbeit der Jugendämter, und legen damit fest, welchen Fokus das Thema sexualisierte Gewalt in einer Stadt/Gebietskörperschaft hat, oder eben nicht. Bundesgesetzgebungen können Verbesserungen schaffen, aber die Ausgestaltung und Umsetzung obliegt den Kommunen und damit der kommunalen Politik.

Zum Auftakt berichteten die anwesenden Betroffenen Rebecca, Herr Keim und Herr Wolf von ihren persönlichen Erfahrung. Mit Blick auf das Plakat sagte Herr Keim: „Wir haben meist das Bild einer heilen Welt in den Familien, aber genau dort finden die meisten Übergriffe statt. Mir ist es wichtig, das Schweigen über das, was in Familien passiert, zu brechen“ Und forderte anschließend Akzeptanz, Anlaufstellen und das Bewusstsein, dass Kinder per se ungeschützt sind und Schutz benötigen. Des Weiteren fehlten Aufklärung über sexuelle Gewalt und eine Auseinandersetzung über Sexualität und Grenzen. Rebecca ließ die Teilnehmenden an Ihrer Missbrauchserfahrung durch den Vater teilhaben und verdeutlichte, wie das Jugendamt versagt hat, trotz eigenen Versuchen, darüber mit Fachleuten zu sprechen (hör auf zu Lügen) und vielfacher Hinweise, die sie in ihrer Akte vom Jugendamt fand. „Es waren damals sehr viele Hinweise da, aber das Jugendamt hat nichts gemacht.“ Sie betonte die notwendige Schulung von Fachkräften, um betroffenen Kindern gerecht zu werden. Insbesondere auch die Loyalitätskonflikte, in denen sich betroffene Kinder befinden zu verstehen und zu begreifen, dass Kinder ihre missbrauchenden Eltern dennoch lieben und schützen wollen! Herr Wolf schloss den Gesprächsauftakt durch die Betroffenen: „Ich hätte damals nicht sprechen können, aber man hätte mir dennoch helfen können.“ Wenn das auffällige Verhalten nicht zusätzlich sanktioniert worden wäre, sondern als Not erkannt worden wäre. Wenn nicht auf den Missbrauch Erfahrungen von Ausgrenzung, Isolation, Ablehnung und Mobbing gefolgt wären, sondern Hilfsangebote, Akzeptanz und in Beziehung treten, das hätte einen Unterschied gemacht.

Es entwickelte sich ein weitereichendes Fachgespräch über den Kinderschutz in Kassel, indem deutlich wurde, dass die Thematik vielfältigen Diskussionsstoff bietet und innerhalb von einer Stunde nicht umfänglich zu besprechen ist. Nicole Maisch berichtete, dass die Stadt Kassel derzeit an einem Gesamtkonzept gegen sexuelle Gewalt arbeitet. Ein entscheidender Baustein seien dabei die Schutzkonzepte, die schon in allen Kitas und Jugendhilfeeinrichtungen vorliegen und in den Schulen derzeit erarbeitet werden. Diese sollen im Sinne eines Gesamtkonzeptes zwischen Schule und Jugendhilfe ineinandergreifen. Das städtische Gesamtkonzept soll auch mit Fachverbänden abgestimmt werden und die Erfahrungen von Betroffenen soll in das Gesamtkonzept einfließen.
Ilona Friedrich konnte ihre vielfältigen Erfahrungen, vor allem auch aus der Arbeit als Jugendamtsleitung im Werra-Meißner-Kreis in die Diskussion einbringen: „Wir werden nicht alle Fachkräfte gleichwertig gut ausbilden und für das Thema sensibilisieren können, daher müssen wir auf Fachberatung setzen.“ Es seien Fachpersonen nötig, die sich dem Thema annehmen und in jeder Einrichtung vorhanden sind. In komplexen Fällen hätten Sie im Werra-Meißner-Kreis gute Erfahrung mit einem externen Expertenteam als Beratung des Jugendamtes gemacht.

Ein Gesamtkonzept für eine Stadt muss vielfältige Bereiche abdecken, wie im Gespräch deutlich wurde. Isabelle Seuter von eigenMächtig betonte, die Notwendigkeit sich mit dem Therapeut*innen-Mangel in Kassel zu beschäftigen. Vor allem da Betroffene von sexualisierter Gewalt häufig die Erfahrung machen, dass Therapeut*innen für Klienten mit sexuellen Traumatisierungen keine Plätze anbieten. Des Weiteren muss die Sichtbarkeit der einzelnen Angebote in Kassel gewährleistet werden. Bei wem melde ich mich? Frau Maisch betonte, dass das Thema durch die Öffentlichkeitsarbeit von faX und eigenMächtig sowie durch die Bundeskampagne präsenter wird. “Durch eine gut informierte und sensibilisierte Gesellschaft wird Kindesmissbrauch eher wahrgenommen und den Betroffenen kann geholfen werden“, so Maisch.

„Schieb den Gedanken nicht weg“ ist das Motto der Kampagne. Und was ist, wenn Betroffene erwachsen werden? fragen wir und wollen auch diesen Gedanken zulassen und besprechen. Was brauchen erwachsene Betroffene? Eine Leerstelle konnte nun geschlossen werden: Ein Angebot für erwachsene Betroffene Männer* von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend wird durch das Land Hessen für Nordhessen finanziert. Herr Keim als erster Nutzer dieses Angebots von faX, musste lange suchen und warten bis er für seine Anliegen Hilfe bekam. Mit eigenMächtig und faX ist nun eine beraterische Versorgung für alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend gewährleistet. Ein weiterer, wichtiger Baustein für Erwachsene sind Entschädigungsleistungen. Das bisherige OEG greift für viele erwachsene Betroffene nicht, weil die Beweisbarkeit von sexualisierter Gewalt in der Kindheit als Auslöser der Problemlagen im Erwachsenenalter oft nicht möglich ist. Die Mehrheit der von sexualisierter Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen tauchen nie beim Jugendamt oder anderen Stellen auf, so dass ihre Erfahrungen von keiner öffentlichen Stelle dokumentiert werden.

Hier wurde deutlich, dass es für dieses Themenfeld in Kassel bisher keine Wahrnehmung gegeben hat. Hier wird es wichtig sein, dass eine Kreis von Kasseler Betroffenen dieses Thema der Politik nah bringt und auslotet, welche Hilfeangebote geschaffen werden könnten. Mit dem neuen SGB XIV welches ab 2024 das OEG ablöst entstehen neue Möglichkeiten dafür.

Rebecca „Wichtig wäre es, dass Kinder während des Gerichtsverfahrens schon Therapie machen dürfen und nicht erst zwei Jahre später, wenn das Gerichtsverfahren abgeschlossen ist“

von links, Frau Maisch, Frau Selzer, vorne Frau Friedrich
Frau Maisch „Für guten Kinderschutz brauchen wir kompetente Erwachsene und starke Kinder.“
Frau Friedrich „Das macht mir Sorgen, wie wir das notwendige Wissen zur Prävention sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend in Zukunft bei Fachkräftemangel und fortschreitenden Einstellung von unqualifizierten Personal vermitteln und bekannt machen können“
ITES-Netzwerk „Die gesetzliche Grundlage zur Kooperation in Fragen des Kinderschutzes ist seit 2012 verankert, aber die Kooperationen müssen auch real gemacht werden. Kooperation zwischen unterschiedlichen Professionen ist schwierig, da reicht es nicht nur im Einzelfall mal Kontakt zu haben“

eigenMächtig e.V. „Beim städtischen Gesamtkonzept wäre es auch wichtig die Sichtbarkeit in der Gesamtheit der Angebote zu gewährleisten. Mit welchem Anliegen kann ich wohin?“
Julius Wolf „Bei jeder Träger der Jugendhilfe/ Schule/ KiTa sollten mindestens zwei Ansprechpartner*innen für sexualisierte Gewalt vorhanden sein, um durchgängige Präsens von qualifiziertem Personal zu gewährleisten“
Herr Keim: „Wir haben meist das Bild einer heilen Welt in den Familien, aber genau dort finden die meisten Übergriffe statt. Mir ist es wichtig, das Schweigen über das, was in Familien passiert, zu brechen“